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Glossar
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Menschen am Sonntag
[Robert Siodmak, Billy Wilder, Edgar G. Ulmer, D 1929/30]
„Menschen am Sonntag“ ist einer der letzten deutschen Stummfilme und zugleich der schönste, der charmanteste, der modernste. Berlin im Sommer 1929. Vier junge Leute machen einen Sonntagsausflug ins Grüne, an den Wannsee. Sie planschen im Wasser und fahren im Tretboot, sie gehen spazieren und hören Grammophon, sie necken sich, sie lieben sich und gehen wieder auseinander. Eine Allerweltsgeschichte und doch unvergeßlich, bezaubernd in ihrer spielerischen Leichtigkeit; ein Geniestreich einer Gruppe von jungen Filmemachern, hergestellt mit wenig Geld und großer Begeisterung.
„Menschen am Sonntag“ wirkt wie ein frühes Manifest der Nouvelle Vague, wie ein Aufbegehren gegen die ausgetreten Pfade des alten Erzählkinos, wie ein Befreiungsschlag: An die Stelle von Stars und eingeübten Bewegungen treten Laiendarsteller und ein unverbrauchtes Spiel. Die eleganten Kamerafahrten durch Studiokulissen sind hier ersetzt durch unkonventionelle und überraschende, in dokumentarischer Manier gedrehte Bilder von Menschen, Orten und Stimmungen in Berlin. Der berühmte Kameramann Eugen Schüfftan photographiert die Gesichter gegen den Himmel und schafft den Eindruck von Grenzenlosigkeit und Zuversicht. „Menschen am Sonntag“ feiert den Augenblick, das Hier und Jetzt. Ein melancholischer Grundton ist dabei aber stets präsent, denn die Erlebnisse und Stimmungen sind flüchtig und nicht von Dauer, die Gefühle kommen und gehen. Was bleibt, ist das Filmmaterial, das festhält und nicht mehr losläßt. Neben Schüfftan sind fünf Anfänger an dem Film beteiligt, die allesamt große Karrieren in Hollywood vor sich haben: die Regisseure Robert Siodmak und Edgar G. Ulmer, die Drehbuchautoren Curt Siodmak und Billie Wilder, der Kameraassistent Fred Zinnemann.
Schon den zeitgenössischen Kritikern ist bewußt, daß sie es hier mir einem ganz besonderen Werk zu tun haben. Das Experiment wird bejubelt. Erich Kästner schreibt über die bisherigen Studioproduktionen und die Chance, die „Menschen am Sonntag“ in dieser Situation verheißt: „Daß an der mangelnden Qualität unserer Filme die Industrie die Schuld trägt, ist eine Behauptung, die zu beweisen sehr schwer ist, da ja außerhalb eben jener Industrie Filme kaum produziert werden. Glücklicherweise bescherten die letzten Wochen einen Film, der als Beweismaterial in der angedeuteten Richtung vorzüglich verwendbar ist. Denn er wurde von Außenseitern geschrieben, gespielt, in Regie genommen und gedreht. ‚Filmstudio 1929’ nennt sich diese von Moriz Seeler geschaffene Gruppe deutscher Avantgardisten, und ihr erstes, außerordentlich erfreuliches Produkt heißt ‚Menschen am Sonntag’. (...) Es kam kein fertiges Meisterwerk zustande, aber ein Film, der das breite Publikum und seinen Großstadt-Sonntag, teils als Handlung mit vier Personen, teils als Reportage mit der anonymen Masse selber, dringend angeht; ein Film, der bereits so viele schöne Bilder und Momente enthält wie ein Dutzend hundertmal teurerer Industriefilme nicht; ein Film, der eine nahezu hundertprozentige Garantie dafür ist, daß dieses Filmstudio, wenn es sich seine künstlerische Naivität bewahrt und aus seinem ersten bewundernswerten Versuch noch hinzuzulernen versteht, für unsere Filmproduktion äußerst wichtig zu werden vermag.“ (Neue Leipziger Zeitung, 22.2.1930).
Herbert Ihering fragt: „Was ist das Besondere? Die zauberhafte Leichtigkeit des Bildflusses, musikalischer als in allen Tonfilmen? Der Humor, die Einfälle, die Frische, die Unbekümmertheit, die Spielfreude? Das Besondere ist, daß vielleicht von selbst, vielleicht unbeabsichtigt dieser Film zur ursprünglichen Geste zurückkehrt. Um so besser, wenn unbeabsichtigt. Die Geste kehrt an ihren Ursprung zurück, weil die Vorgänge selbstverständlich sind. Ein Ruder ist ins Wasser gefallen. Es muß heraus geholt werden. Eine Zigarette wird durchbrochen. Geld wird auf den Tisch gelegt. Ein Mädchen blickt einen Jungen an. Eine Hand fährt übers Haar. Tausend Gebärden, tausendmal durch die Routine der Berufsschauspieler ihrer Ursprünglichkeit beraubt, ausnuanciert, verdorben und verkitscht. Ebenso verdorben und verkitscht wie die Vorgänge, die Handlungen, die zu diesen Gesten führen. Ein junger Film. (...) Der Aufbau von unten beginnt. Hoffen wir es.“ (Berliner Börsen-Courier, 5.2.1930).
Philipp Stiasny, 23.4.2006
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Bilder: Filmmuseum Berlin
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